Yoshin Franz Ritter
Den großen Wandel gestalten

Aus: „Der andere Flügel des Adlers – Naikan und die Welt der Krisen“
Sachbuch Erscheint im Januar 2023
Themenkreis: Ökologie, Naikan und neue Innerlichkeit

Worauf sollten wir unser Bewusstsein lenken, wenn wir den großen Wandel beginnen wollen? Auf das Unmittelbare, das direkt vor uns ist. Und auf die großen Themen, für die wir uns zusammenschließen müssen, um sie zu bewältigen. Und auf das, was hinter allem ist.

Hinter allem ist die Sehnsucht des Menschen nach einem größeren Leben. Natürlich, nicht alle wagen den Schritt in diesen Gedanken. Doch wenn wir uns fragen, wohin unsere Entwicklungsreise als Menschen führen soll, dann sind wir mit unserem jetzigen Leben wohl kaum am Ende angelangt. Im Gegenteil, unsere Reise hat im großen Stil erst begonnen.

Bis vor 300 Jahren war das Hauptthema des Menschseins dem Leiden zu entrinnen. Nur wenigen „Auserwählten“ war es möglich, über Dasein und Existenz zu reflektieren. Für das gewöhnliche Volk gab es das „Opium[1]“ der religiösen Erzählungen. Deren Versprechen lautete: Im Himmel (oder sonst wo) wird Dein Leiden belohnt. Das änderte sich, zumindest in Europa, mit dem Auftreten der Aufklärung. Ihr Wahlspruch „Sapere aude!“, wage es, weise zu sein (von Immanuel Kant übersetzt als: habe Mut, Dich Deines eigenen Verstandes zu bedienen!),war ein Aufruf an alle Menschen, nicht nur an einige wenige Privilegierte. Parallel zu der geistigen Befreiung durch die Aufklärung entwickelte sich auch die wirtschaftliche Basis der Menschen. Zuerst in Europa, später in den USA und heute rund um die Erde mit wenigen Problemzonen. Nachzulesen im schon genannten Buch „Der große Ausbruch“ von Angus Deaton[2].

Aus meiner Sicht ist die psychologische Entwicklung der Menschheit heute in ihrer Pubertät angekommen. Derzeit wird alles Mögliche probiert, vor allen das Kapitalismusspiel. Adam Smith, der Begründer dieses Ideengebilde, sah es noch als Wirken des Eigennutzes mit einem moralischen Mantel (der jedoch von seinen Nachfolgern bald abgeworfen wurde). Wie ein Kind in der Sandkiste lebte der frühe Kapitalismus seine spontanen Ideen aus. Hier eine Eisenbahn, dort ein Stahlwerk, hier eine Börse. Egoistisch wie Kinder eben sind, wenn ihnen keine Grenzen gesetzt wurden, spielten die Kapitalbesitzer mit den Möglichkeiten, die sie umgaben. Erst langsam setzte sich durch die Gedanken der Sozialreformer, vorzugsweise von Marx und Engels, auch die Idee des Gemeinwohls durch (Raiffeisen und Co) und die Gesellschaften entwickelten Wohlstandsmodelle, die (fast) alle ihre Mitglieder einschlossen und dem Treiben (viel zu wenige) Grenzen setzte. Aber immer noch steht der Mensch im Mittelpunkt der Sichtweise des Menschen. Der Gedanke des Gemeinwohls wurde und wird nicht auf die ganze Welt übertragen, sondern nur auf die menschliche Gesellschaft.

Das ist zu wenig, wie wir heute erkennen. Wir sind nicht allein auf der Welt. Und wir sind auch nicht die „Besitzer“ des Planeten. Obwohl uns auf Grund unserer Intelligenz und der Fähigkeit, in größeren Dimensionen zu denken, von der Evolution möglicherweise eine besondere Aufgabe zugedacht ist, deren Zweck noch im Nebel des Nichtwissens verborgen ist. Eine Aufgabe, die wir zu erfüllen haben. Wenn wir dabei versagen, werden wir von der Evolution ausgetauscht. Es gibt auch andere intelligente Wesen auf unserer Erde. Vielleicht wachsen sie in die Aufgabenstellung hinein, über sich selbst hinauszugehen in eine größere Wahrheit. Wir sind jedenfalls bei der Erfüllung dieser Aufgabe[3] in der Adoleszent angekommen. Wir strampeln mit Grundbegriffen und Rollenbildern herum (Wahrheit! Börsenwert! Weltpolizist! Gewinnstreben! Ethik! Moral! Sachzwang! Autorität! Recht!) und unsere derzeitige Weltsituation spiegelt diese Verwirrung.

Es ist Zeit für den nächsten Schritt. Die aktuelle Krise ist ein guter Anlass, wieder einmal alle Elemente des aktuellen Systems kritisch zu hinterfragen und Neues (und den Gebrauch des Verstandes) zu wagen. Aus Betroffenen müssen Beteiligte werden. Die Jungen von Fridays For Future schreien Halt! und haben recht damit. Wir zerstören gerade ihre Zukunft. Deshalb müssen wir innehalten und uns auf das Wesentliche besinnen. Das Wesentliche, das ist die Kohäsion, der Zusammenhalt und das Zusammenwirken von Allem mit Allem. Der Wandel wird nur demokratisch gelingen, denn alle bisherigen diktatorischen Herrschaftssysteme haben über kurz oder lang Schlagseiten aufgewiesen, die letztendlich zu ihrem Untergang geführt haben. Also lasst uns beginnen. Gemeinsam.

Das Klimaproblem

97% der Wissenschaftler der Erde sind überzeugt, dass wir nur mehr wenig Zeit haben, um einen tiefgreifenden Wandel unserer bedrohlichen Klima-Situation herbeizuführen. Viele sprechen von 2030 als den entscheidenden Zeitpunkt, nach dem einige Veränderungen, die wir jetzt schon spüren, unumkehrbar werden. 10 Jahre, die es zu nutzen gilt. Wir handeln nämlich im Augenblick wie der Verurteilte in Kafkas Prozess[4]. Er hat keine Ahnung, wofür er verurteilt wurde, aber am Ende wird er hingerichtet. Und ergibt sich erstaunlich ruhig seinem Schicksal.

Wollen wir das wirklich? Das, für das man uns (vor allem die Bewohner der westlichen Hemisphäre) vor dem Weltgericht anklagt, ist die hemmungslose Ausbeutung der globalen Ressourcen. Und die damit verbundene Überindustrialisierung, die Dinge erzeugt, die wir innerhalb kürzester Zeit auf die gigantischen Müllberge werfen, die Kennzeichen unseres Wirtschaftens geworden sind. Das Tempo dieses Einbahn-Recyclings steigert sich. Immer mehr Ressourcen verschwinden, ganze Landstriche wie der amerikanische Weizengürtel oder die verwüsteten Teile der gerodeten Regenwälder veröden. Aber wir sind weiterhin auf der Suche nach natürlichen Grundlagen, die wir vernichten können.

Wenn wir alle wie die USA wirtschaften, dann brauchen wir 5 Erden. Deutschland (Europa?) handelt, als ob 3 Erden verfügbar sind (Quelle: Global Footprint Network). Science fiction-Träume (selbst von so großen Denkern wie Stephen Hawking!) lassen uns andere Planeten besetzen und besiedeln. Was für ein unglaublicher Schwachsinn! Wie viele Menschen passen in ein aktuelles Raumschiff? 5? 10? Selbst wenn wir hierfür den Faktor 100 einsetzen, ist das Schicksal von 99,99999% der Bevölkerung besiegelt – sie geht mit dem Klimawandel unter. Das ist schon fünfmal auf dieser Erde passiert. Wir sind gerade dabei, das sechste große Sterben zu organisieren. Und diesmal wollen wir anscheinend sicher sein, dass es klappt. Deswegen haben wir von den Ursachen bis zur Durchführung alles selbst in die Hand genommen.

Der große Wandel ist angesagt, wenn wir den Menschheitsuntergang noch absagen wollen (ich bin allerdings in der Frage, ob oder doch kein Untergang droht, neutral, weil ich denke, dass wir uns in jedem Fall als Menschheit bewegen sollten). Angeblich tut sich der Mensch aber schwer mit Veränderungen. Der nächste Schwachsinn, der uns hemmt. Natürlich, im Moment nimmt der größere Teil der Menschheit den Klimawandel wie eine ferne Gefahr war, die uns nichts angeht. Ein bisschen Angst ist schon da, trotzdem träumen wir vom nächsten PS-starken Auto oder von der Flugreise nach Mauritius. Wir sind eben interessensgeleitete Wesen. Was uns nicht sehr interessiert, das bewegt uns nicht. Aber wie aktuell die Corona-Krise zeigt, sind wir erstaunlich veränderungsfähig. Wir müssen uns nur von ein paar liebgewonnen Eigenheit verabschieden und uns den neuen Bedingungen stellen.

Zugleich sind wir gerade mitten drinnen in einer so umfassenden Umstellung der Welt, wie sie noch nie stattgefunden hat – der digitalen Revolution. Sie beweist auch, wie Veränderung klappt. In uns und in der ganzen Gesellschaft. 1983 kaufte ich mir meinen ersten Computer. Mir war klar, dass ich als jemand, der sich über sein Schreiben ausdrückt, da sofort dabei sein muss. Mit viel Pioniergeist schaffte ich es, mich in das neue Medium einzuleben. Und ich beobachtete in den nächsten Jahren, wie Firmen, deren Chefs sich weigerten, einen Computer auf den eigenen Schreibtisch zu stellen, den Bach hinunter gingen. Das ging nicht mehr. Die Informationsübertragung fand rasend schnell über den Bildschirm statt. Wer da nicht dabei war, war draußen.

1993 folgte mein erstes Handy. Anfangs noch scheel betrachtet, wurde es bis heute zum unentbehrlichen Begleiter (und zur Suchtmaschine) von Milliarden Menschen. Anfangs war eine Festnetznummer noch ein Kennzeichen einer soliden Firma. Heute kann kein ernstzunehmender Gesprächspartner darauf verzichten direkt über sein Handy erreichbar zu sein. Was leider auch zu einem anderen Kennzeichen unserer Zeit geführt hat: dem allzeit verfügbar sein. Aber wie rasch haben wir alle unser Leben auf diese neuen Gegebenheiten eingestellt?

Wenn uns etwas interessiert, dann entsteht die kritische Masse, die es für einen Wandel braucht, sehr rasch. Doch sind wir alle daran interessiert, dass die Erde für Menschen bewohnbar bleibt? Oder wollen wir lieber gemeinsam Selbstmord begehen? Oder dahinsiechen in einer Welt, die uns (zu Recht) feindlich gesinnt ist? Wenn Du für die erste Lösung bist, dann lies bitte weiter. Wenn nicht, dann freut es mich, dass Du bis hierher gelesen hast. Der Rest ist für Dich nicht so interessant. Oder doch?

Was braucht es also für einen Wechsel? Es braucht, dass wir den linken Flügel des Adlers aktivieren. Den Flügel, der näher zum Herzen ist. Wandere einmal in Deiner näheren Umgebung herum und stell Dir vor, was zum Beispiel bei einer Erwärmung des Mikroklimas rund um Dich alles verschwinden würde. Die wunderschön blühenden Kastanienbäume? Vor Jahren vertrocknet. Grüne Wiesen? Leider hat die Stadtverwaltung das Gießen von Grünanlagen aus Wassermangel eingestellt. Blauer Himmel? Ist ein Zeichen von großer Hitze zur Tagesmitte, und Du wirst in der Nacht wieder schlecht schlafen, weil Deine Wohnung so heiß ist. Klimaanlage? Seit Jahren als Energiefresser verpönt. Wenn Nachbarn das Geräusch Deiner Klimaanlage hören, gibt es Krach. Auto? Das Elektroauto, dass Du Dir angeschafft hast, weil es so stark gefördert wurde, erwies sich nicht gerade als das Gelbe vom Ei. Die versprochenen 400 Kilometer der Reichweite reichen nicht einmal für die Hälfte. Und dann hängt Dein Auto lange Zeit am Netz, weil Du Dir natürlich das Auto mit der Schnelllade-Superbatterie nicht leisten konntest. Und die ökologischen Bedenken wegen der Erzeugungsprozesse der E-Autos sind noch lange nicht ausgeräumt. Dafür werden die Straßen immer schlechter, weil durch die allgemeine Wirtschaftskrise, die durch die Kosten der Klimaschäden ausgelöst wurde, kein Geld für die Instandhaltung da ist. Der öffentliche Verkehr ist auch mehr oder minder zusammengebrochen, weil viel zu spät investiert wurde. Ein Bahnticket musst Du Monate vorher bestellen und dann ist nicht sicher, ob Du es bekommst. Fernflüge gibt es schon lange nicht mehr. Und eine Urlaubsreise gleicht einer Expedition in die Wüste Gobi. Deswegen bleibst Du seit Jahren daheim. Willkommen in der schönen neuen Welt.

Wie können wir dieses Schicksal abwenden? Nun, einerseits ist es wichtig, dass wir unsere Selbstentfremdung auflösen. Nicht nur die uns selbst gegenüber, sondern auch unsere ökologische Blindheit. Wir sind mehr als nur unser Körper. Das merken wir, wenn wir unsere Wahrnehmungskanäle zu unseren Gefühlen wieder öffnen. Wir reagieren jeden Moment auf unsere Umwelt, auf die Wärme der Sonne und die Kühle der Nacht. Auf das Singen eines Vogels oder das Dröhnen eines Lastwagens. Auf den Geruch des Jasmins im Frühjahr und den Gestank einer giftigen Chemikalie, der uns warnt. Wenn unser Bewusstsein in Ein-Klang mit unserer Umgebung ist, dann wird unser Handeln ein anderes sein. Wir werden empfindsamer gegenüber unseren eigenen Bedürfnissen, deren Missachtung wir weniger leicht hinnehmen. Wir werden uns mehr über die Schönheiten der Welt freuen und alles verstärkt spüren, was diese Harmonie stört.


[1] Karl Marx: Religion als das Opium für das Volk In : Zur Kritik der Hegelischen Rechtsphilosophie 1844

[2] Angus Deaton: Der große Ausbruch – Von Armut und Wohlstand der Nationen Klett-Kotta 2017

[3] Es ist allerdings ebenso gut möglich, dass es gar keine Aufgabe für uns gibt, sondern wir nur einfach probieren, was möglich ist. Was unsere Situation und die Anforderungen an unsere Handlungsweisen nicht wesentlich ändern würde.

[4] Franz Kafka Der Prozess Anaconda Verlag 2006